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Film und Buch

KLEINE FLUCHTEN

In ein paar Tagen verabschiedet sich das alte Jahr und ein neues beginnt. Aller Anfang ist schwer sagt ein geflügeltes Wort und tatsächlich, wenn wir das dahinscheidende Jahr Revue passieren lassen, scheint das neue Jahr mit Schwere zu beginnen. Aber: jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, heißt es auch (Herman Hesse). Nach fast drei Jahren Ausnahmezustand, geprägt zuerst von der Pandemie und dann von den Kriegen in der Ukraine und im Gazastreifen, wünschen wir uns alle ein wenig Zauber. Und wo kann man besser dem Alltag entfliehen und sich verzaubern lassen als im Kino?

In Zeiten wie diesen sind Filme, die wahre Geschichten über bewundernswerte echte Menschen erzählen, wirkliche Mutmacher. Im Januar kann man sich über einige solcher Filme freuen. Dazu gehören Joan Baez, I am a Noise, ein unkonventionelles Biopic über die Sängerin und Aktivistin, die schon mit Martin Luther King marschierte und die sich seit über 60 Jahren mit ihren Songs für eine bessere Welt einsetzt, oder Becoming Giulia eine Dokumentation über die Primaballerina Giulia Tonelli, die ihre Leidenschaft fürs Tanzen auch nach der Geburt ihres Kindes nicht aufgibt. La cuisine française verzaubert immer. In seinem Regiedebüt Sterne zum Dessert erzählt Sébastien Tulard die ebenfalls wahre, unglaubliche Geschichte von Yazid Ichemrahen, der sich als benachteiligter migrantischer Jugendlicher den Weg durch verschiedene Küchen Frankreichs rührt, flambiert, püriert und 2014 im Alter von nur 23 Jahren die Weltmeisterschaft der Konditoren gewinnt und zum Star-Konditor Frankreichs wird. Seine Dessert-Kreationen sind heute weltweit begehrt. Solche Geschichten geben Hoffnung und verzaubern uns in schweren Zeiten. Ebenfalls aus Frankreich kommt Catherine Breillats neuer Film Im letzten Sommer. Darin geht es um die zweite französische Sache: l’amour. Die ist in französischen Filmen immer kompliziert, das wissen wir seit Truffauts Jules und Jim und so ist es auch hier. Breillats Filme drehen sich fast immer um weibliche Sexualität. Diesmal geht’s um eine Frau in ihren 50ern, die eine Affäre mit ihrem 17.-jährigen Stiefsohn hat. Pikant, pikant. Über Sex und Moral handelt auch der neue Film von Yorgos Lanthimos. In Poor Things, seine feministische Variation des Frankenstein-Motivs, schickt er die von einem Arzt (gespielt vom genialen Willem Dafoe) erschaffene Bella Baxter (Emma Stone) auf sexuelle Entdeckungstour durch ganz Europa. Besonders gespannt bin ich auf die Neuverfilmung von Die Farbe Lila. Alice Walkers Roman wurde bereits 1984 von Stephen Spielberg verfilmt, mit Whoopi Goldberg in der Hauptrolle. Oprah Winfrey gab damals ihr Filmdebüt. Nun kommt die Story als opulentes Frauen-Power-Musical ins Kino, produziert von Spielberg, Oprah Winfrey und Quincy Jones. Da kann man sich 140 Minuten lang auf ein visuelles und musikalisches Feuerwerk einlassen. Das ist Kino pur.

Welche Filme es sonst noch im Januar zu sehen gibt, erfahren Sie ausführlicher auf choices.de. Lassen Sie sich verzaubern. Gehen Sie ins Kino.

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Film und Buch

Kästner reloaded

Alle zwanzig Jahre wieder: „Das fliegende Klassenzimmer“ diesmal von Carolina Hellsgård

Neunzig Jahre nach dem Erscheinen von Erich Kästners berühmtem Kinderroman „Das fliegende Klassenzimmer“ wird zum nun vierten Mal der Stoff verfilmt. Was suggeriert, dass der Stoff aus dem Jahr 1933 (mit größeren und kleineren Abwandlungen) im Kern zeitlos ist.

Zum ersten Mal wurde das Buch 1954, gut zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, von Kurt Hoffmann fürs Kino verfilmt. Dieser hielt sich streng an die Kästners Buchvorlage, der im Film sich selbst, den erwachsenen Erzähler, spielt. Der Film wurde zu einem der populärsten Filme der deutschen Nachkriegszeit. Noch einmal zwanzig Jahre später (1973) griff Werner Jacobs den Stoff auf und verlegte die Handlung in den Sommer. Adé, wilde Schneeballschlachten, die zu den einprägsamsten Szenen des Buchs und des ersten Films gehören. Diese fanden in einer Light-Version den Wiedereinzug in die Verfilmung von 2003. Regie führte Tomy Wiegand, der sich zwar an die Jahreszeit hielt, Kampf- und Raufszenen jedoch vermied und als Modernisierungsmaßnahme ein Rap-Musical aus dem Stoff machte.

Einen modernen Anstrich verspricht auch die aktuelle Neuverfilmung, die wieder zwanzig Jahre nach der letzten ins Kino kommt. Aus den verfeindeten Realschüler:innen und Gymnasiast:innen wurden schon 1973 „interne“ und „externe“ Schüler:innen des Internats (d.h. dort lebende und nicht dort lebende Schüler:innen), die sich gegenseitig nicht ausstehen konnten. Die Schule nimmt heutzutage natürlich auch Mädchen auf, und sowohl die Internen als auch die Externen sind viel diverser aufgestellt. Aus Martin ist Martina (Leni Drescher) geworden, die als Tochter einer Alleinerziehenden aus einer Berliner Hochhaussiedlung stammt – und aus Johnny die taffe Jo (Lovena Börschmann Ziegler), die aber gar nicht so taff ist wie sie tut. Denn im Herzen sehnt sie sich nach einem Wiedersehen mit ihrer leiblichen Mutter, einer Brasilianerin, die sie als Baby ausgesetzt hat. (…)

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Familie-Erziehung-Beziehung Film und Buch

Falls ich dich überlebe von Jonathan Escoffery. Ein Roman über Familie, Identität und Zugehörigkeit.

Gibt es Rassismus unter „Schwarzen“? Unter den Mitgliedern ein und derselben Familie gar? Wer ist überhaupt „Schwarz“? Wer bestimmt, wer Schwarz ist? Und was macht die Bezeichnung und Benennung der Hautfarbe mit einem Menschen? Wie wirkt sich das auf das Leben aus? Das sind die interessanten und existentiellen Fragen, denen Jonathan Escoffery in seinem Debütroman über eine in die USA eingewanderte Familie aus Jamaika nachgeht.

Ob die spannende Romangeschichte autobiographisch ist, weiß ich nicht, aber sie enthält sicherlich autobiographische Züge, denn wie sein Romanheld Trelawney wurde der Autor Jonathan Escoffery als Kind eingewanderter jamaikanischer Eltern in den USA geboren. Während Trelawney also Bürger des Landes ist, in dem er lebt, sind seine Eltern und sein Bruder Ausländer. Die Mutter ist sehr hellhäutig und kommt nicht damit klar, dass sie in ihrer neuen Heimat als Schwarze angesehen wird. Gleichzeitig ist ihr größter Horror, dass ihre Söhne später eine schwarze Frau heiraten könnten. Während die Brüder aufwachsen, bekommen sie ständig die Ermahnung, kein dunkelhäutiges Mädchen mit krausen Haaren anzuschleppen. Auf dem College dated Trelawney dann auch bevorzugt weiße Mädchen. Mit dem Blick ständig auf die alte Heimat gerichtet, fällt es der Mutter schwer in der neuen anzukommen. Und als ihre Jungs groß sind und ihre Ehe geschieden, kehrt sie nach Jamaika zurück. Auch Trelawney hadert mit seiner Identität. Er wächst in Miami auf und hängt in der Schule mit Jungs kubanischer Herkunft ab. Als herauskommt, dass er gar kein „Kubaner“, sondern ein „Schwarzer“ ist, wird er fortan von der Gruppe gemobbt. In einer Gesellschaft, die von einer weißen Mehrheit bestimmt wird– und die in Miami nicht einmal die tatsächliche Mehrheit bildet – gilt nicht die eigentliche Farbe der Haut, sondern vielmehr welcher ethnischen Gruppe diese Farbe zugeordnet wird. Später, als er schon längst erwachsen ist, lässt Trelawny einen Gentest durchführen, bei dem herauskommt, dass er zu 59,9% europäischer Herkunft ist. „Du Schwarzer, bist überwiegend Europäer,“ stellt er erstaunt fest.

Das ganze Schachern um Zuordnung ist so komplex und so sinnfrei, dass es Trelawny in eine tiefe Sinnkrise stürzt, für deren Verarbeitung er fast vier Jahrzehnte braucht.

In „Falls ich dich überlebe“ geht es aber um viel mehr als nur schwarze Identität. Neben einer sehr spannenden Familiengeschichte erzählt der Roman auch viel über die Geschichte der USA, das Land, das gerne als Schmelztiegel bezeichnet wird, in dem die verschiedenen ethnische Gruppen aber schön säuberlich voneinander getrennt leben und es in fast 250 Jahren so gut wie kein Zusammenschmelzen gegeben hat und bis heute nicht gibt.

Falls ich dich überlebe von Jonathan Escoffery, Piper Verlag, 2023, 288 Seiten, € 22,00, ISBN 978-3-492-07154-3