Kategorien
Film und Buch Gesellschaft und Umwelt

Lagos – Leben in Suburbia

In der Ajayi Crowther Street in Lagos lebt der arrivierte Mittelstand. Hier versammeln sich die Nachbarn, um über die, die gerade nicht anwesend sind, zu tratschen, Nachbarschaftsbeschwerden zu besprechen und jeden Sonntag treu in die Kirche von Reverend Akpoborie zu gehen. Dieser hat mühsam das Geschäft mit der Moral und dem Wort Gottes aufgebaut. Nun brüllt er jeden Sonntag Christis Botschaften heraus und beschwört die Rache Gottes auf alle Sünder, die sich nicht bekehren lassen. Der vom heiligen Geist erfüllte Reverend verurteilt so ziemlich alles, was mit Fortschritt zusammenhängt. Doch ein Blick hinter die Fassade seiner eigenen heil(ig)en Familie zeigt, dass hier jemand Wasser predigt, der selbst Champagner trinkt.

Während der Pastor auf seiner Kanzel die Homosexualität verdammt, kämpft sein Sohn Godstime mit seiner Sexualität und traut sich in der homophoben Umgebung nicht, sich als schwul zu outen. Als die Eltern es dann nach einem tragischen Ereignis doch erfahren, nehmen sie lieber die Depressionen des Sohns in Kauf, als sich der Wahrheit zu stellen. Während Sex vor der Ehe von der ganzen Gemeinde als Sünde verdammt wird, wird Pastorentochter Keturah schwanger von ihrem Freund, der zu alledem auch noch Juniorpastor in Reverend Akpobories Kirche ist. Schnell sorgt Pastorengattin Caroline Akpoborie dafür, dass es rechtzeitig eine schöne Hochzeit gibt, bevor irgendwer Verdacht schöpfen könnte. Und was der Reverend selbst hinter verschlossenen Türen mit dem minderjährigen Hausmädchen Kyauta treibt …

Elnathan John kennt sein Nigeria gut und erzählt hier Geschichten aus dem Alltag im Großstadtmoloch Lagos. Geschichten, die sich genauso ähnlich in allen anderen afrikanischen Metropolen täglich abspielen. Die passenden Bilder dazu stammen aus der Feder des Comiczeichners Àlàbá Ònájin. Zusammen erzählen sie von religiöser Heuchelei, Korruption, Kinderarbeit, Homophobie, Sexismus, Materialismus, Nachbarschaftspolitik und Familienzwisten. Die Autoren prangern die Verlogenheit einer Gesellschaft an, in der Status mehr zählt als Menschlichkeit und in der es vor allem gilt, den Schein zu wahren. Aber auch das alltägliche Miteinander kommt nicht zu kurz, es bleibt Zeit für Geschwistergeplänkel und Nachbarschaftstreffen, während  Momente des Humors die steigende Spannung auflockern. Wie in einer Nollywood-Soap gewähren uns die Autoren mit lebendigen Bildern und flotten Dialogen Einblicke in das Leben ihrer Protagonist*innen. Fast hat man das Gefühl, selbst mitten auf der Ajayi Crowther Street zu sein.

 

Im Original (Titel: On Ajayi Crowther Street, Cassava Republic Press, 2019) sind die Dialoge neben English auch im typisch nigerianischen Pidgin gehalten, was zusätzlich zur Lebendigkeit dieser Graphic Novel beiträgt. Die deutsche Übersetzung versucht diese Nuancen beizubehalten, teilweise dadurch, dass manches nicht übersetzt wird. Das irritiert aber eher etwas beim Lesen. Es sollte jedoch kein Grund sein, nicht in einem Rutsch diese unterhaltsame und kritische Graphic Novel zu lesen.

(19.02.22)

„Lagos – Leben in Suburbia“ von Elnathan John und Àlàbá Ònájin, Avant Verlag, December 2021, 224 Seiten, Softcover, ISBN: 978-3-96445-060-9, € 25,00

Das HIER könnte Sie auch interessieren.

Kategorien
Film und Buch Interview

Mit der Verlegerin Bibi Bakare Yusuf im Gespräch

„Jede Kultur muss ein Gefühl von Eigenliebe entwickeln, und dazu gehört auch eine eigene literarische Stimme.“ Ein Gespräch mit der nigerianischen Verlegerin Bibi Bakare-Yusuf über Sprache, afrikanische Literatur und das Kölner Literaturfestival stimmen afrikas.

 

Sie verlegen in Ihrem Verlag Cassava Republic Press seit 2006 Bücher afrikanischer Autor/innen. Welche Bedeutung hat das geschriebene Wort für Sie?
Bibi Bakare-Yusuf: Sprache ist unser höchstes Kulturgut. Wenn eine Sprache nicht genutzt wird, wenn daraus keine Schriftstücke, keine Literatur, keine Bücher entstehen, dann stirbt diese Sprache aus. Wie es bei vielen afrikanischen Sprachen geschehen ist, weil sie nicht verschriftlicht worden sind. Wenn ältere Menschen sterben, stirbt ein ganzes Stück Kultur. Das macht mich traurig.

Die englische Sprache ist ja im Literaturbetrieb sehr dominant.
Wer sich in einer Fremdsprache ausdrückt, bringt Vieles aus der eigenen Kultur in die andere Sprache ein. Das passiert seit Jahren mit Englisch. Sehr viele afrikanische Autoren schreiben auf Englisch und bereichern diese Sprache. Denn bei jeder Übersetzung wird auch kulturelle Sensibilität übertragen, das Englische wird dadurch vitaler und wächst. Das hat auch mit der kolonialen Vergangenheit zu tun. Die restliche Welt hat den Briten diesen Größenwahn erlaubt und zugelassen, sich – sprachlich – überlegen zu fühlen. Wir haben sie glauben lassen, sie seien die Masters of the Universe, weil Englisch sich über den ganzen Globus verbreitet hat. Auch an deutschen Universitäten wird heutzutage in englischer Sprache gelehrt. Aber dieser Fokus auf Englisch als Kultursprache tötet langsam alle anderen Kulturen. Und das dürfen wir nicht zulassen, denn es hat auch mit unserer eigenen Identität zu tun.

Und doch schreiben die meisten afrikanischen Autoren auf Englisch oder Französisch. Verlegt ihr Verlag auch Bücher in nigerianischen Sprachen?
Der Markt für muttersprachliche Literatur ist noch völlig unterentwickelt. Wir verlegen daher bisher nur auf Englisch. Aber dieser Markt ist da und birgt ein riesiges Potential. Sprachen wie Hausa, Yoruba und viele andere enthalten unglaubliche Schätze. In einer Sprache schwingt auch immer ein bestimmtes Weltbild mit. Selbst wenn man zwei Sprachen perfekt beherrscht, wie ich z.B. Englisch und Yoruba, muss ich Purzelbäume schlagen, wenn ich einen sehr komplexen Gedanken auf Yoruba ins Englische übersetze. Dabei geht immer etwas verloren. Deshalb ist es wichtig, dass Menschen – neben Übersetzungen – auch Werke in der eigenen Sprache lesen.
Mit Werken in Hausa möchten wir anfangen, denn diese Sprache wird nicht nur in Nigeria gesprochen, sondern auch in vielen Nachbarländern in West Afrika wie Ghana, Senegambia, Mali. Selbst in China lebt eine große Diaspora von Hausa-Sprechern! Aber dafür müssen erst einmal Werke in dieser Sprache geschrieben werden.

Mehr lesen auf Heimatkunde, Migrationspolitisches Portal der Heinrich Böll Stiftung.

Mehr lesen im magazin, literatur kalender köln