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Gesellschaft und Umwelt

Wo europäische Werte enden

Ich packe meinen Trolley, Koffer, Rucksack – und verreise nach Irgendland. Ich kann das, weil ich aus Deutschland komme und deutsche Reisende in 190 Länder der Welt ohne Visum einreisen können. Was für ein Luxus. Ob als Low-Budget-Rucksackreisende:r, Business Traveller oder Tourist:in mit großem oder kleinem Reisebudget – für uns gibt es kaum Grenzen, die Welt steht uns offen. Woher dieses Privileg kommt? Weil wir die besseren Menschen sind? Die Vorbildreisenden? Diejenigen, die Abenteuer in der Fremde erleben dürfen? Egal, warum wir reisen, es ist für uns eine unhinterfragte Selbstverständlichkeit, mobil sein zu dürfen.

Für sehr viele Menschen gilt dieses Privileg nicht. Sie müssen umständliche Formulare ausfüllen, Gründe nennen, warum sie verreisen wollen und ein volles Bankkonto vorweisen, ehe sie zum Beispiel aus einem Land wie Ghana nach Deutschland einreisen dürfen. Nur hohe Beamte, Politiker:innen und Geschäftsleute kommen in den Genuss eines deutschen Visums. Neuerdings bekommen Menschen aus Ghana nur dann ein deutsches Einreisevisum, wenn sie zusätzlich zu den bereits genannten Bedingungen mindestens schon drei Mal in ein Schengen Land eingereist sind. Heißt: Wer noch nie in Europa war, darf nie nach Europa?

Wundert es, dass sich Viele ohne die ganzen Visa-Formalitäten auf den Weg machen? Jene, die keine Zeit für den ganzen Bürokratiekram haben, weil die Ausreise drängt? Jene, die vor Kriegen und autokratischen Regierungen, vor Hunger und Elend flüchten? Jene, die ohnehin keine Chance auf ein Visum haben? Es treibt auch sie in die EU, wo angeblich Demokratie und Menschenrechte herrschen. Hier hoffen sie Asyl, Arbeit und eine lebenswerte Zukunft zu finden.

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Familie-Erziehung-Beziehung Film und Buch

Falls ich dich überlebe von Jonathan Escoffery. Ein Roman über Familie, Identität und Zugehörigkeit.

Gibt es Rassismus unter „Schwarzen“? Unter den Mitgliedern ein und derselben Familie gar? Wer ist überhaupt „Schwarz“? Wer bestimmt, wer Schwarz ist? Und was macht die Bezeichnung und Benennung der Hautfarbe mit einem Menschen? Wie wirkt sich das auf das Leben aus? Das sind die interessanten und existentiellen Fragen, denen Jonathan Escoffery in seinem Debütroman über eine in die USA eingewanderte Familie aus Jamaika nachgeht.

Ob die spannende Romangeschichte autobiographisch ist, weiß ich nicht, aber sie enthält sicherlich autobiographische Züge, denn wie sein Romanheld Trelawney wurde der Autor Jonathan Escoffery als Kind eingewanderter jamaikanischer Eltern in den USA geboren. Während Trelawney also Bürger des Landes ist, in dem er lebt, sind seine Eltern und sein Bruder Ausländer. Die Mutter ist sehr hellhäutig und kommt nicht damit klar, dass sie in ihrer neuen Heimat als Schwarze angesehen wird. Gleichzeitig ist ihr größter Horror, dass ihre Söhne später eine schwarze Frau heiraten könnten. Während die Brüder aufwachsen, bekommen sie ständig die Ermahnung, kein dunkelhäutiges Mädchen mit krausen Haaren anzuschleppen. Auf dem College dated Trelawney dann auch bevorzugt weiße Mädchen. Mit dem Blick ständig auf die alte Heimat gerichtet, fällt es der Mutter schwer in der neuen anzukommen. Und als ihre Jungs groß sind und ihre Ehe geschieden, kehrt sie nach Jamaika zurück. Auch Trelawney hadert mit seiner Identität. Er wächst in Miami auf und hängt in der Schule mit Jungs kubanischer Herkunft ab. Als herauskommt, dass er gar kein „Kubaner“, sondern ein „Schwarzer“ ist, wird er fortan von der Gruppe gemobbt. In einer Gesellschaft, die von einer weißen Mehrheit bestimmt wird– und die in Miami nicht einmal die tatsächliche Mehrheit bildet – gilt nicht die eigentliche Farbe der Haut, sondern vielmehr welcher ethnischen Gruppe diese Farbe zugeordnet wird. Später, als er schon längst erwachsen ist, lässt Trelawny einen Gentest durchführen, bei dem herauskommt, dass er zu 59,9% europäischer Herkunft ist. „Du Schwarzer, bist überwiegend Europäer,“ stellt er erstaunt fest.

Das ganze Schachern um Zuordnung ist so komplex und so sinnfrei, dass es Trelawny in eine tiefe Sinnkrise stürzt, für deren Verarbeitung er fast vier Jahrzehnte braucht.

In „Falls ich dich überlebe“ geht es aber um viel mehr als nur schwarze Identität. Neben einer sehr spannenden Familiengeschichte erzählt der Roman auch viel über die Geschichte der USA, das Land, das gerne als Schmelztiegel bezeichnet wird, in dem die verschiedenen ethnische Gruppen aber schön säuberlich voneinander getrennt leben und es in fast 250 Jahren so gut wie kein Zusammenschmelzen gegeben hat und bis heute nicht gibt.

Falls ich dich überlebe von Jonathan Escoffery, Piper Verlag, 2023, 288 Seiten, € 22,00, ISBN 978-3-492-07154-3

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Film und Buch Musik

Fisherman’s Friends 2 – Eine Brise Leben

Shanty Sänger Reloaded

Die wahre Geschichte der Fischer aus Port Isaac, die mit ihren Seemannsliedern 2010 die britischen Charts eroberten (11 Wochen lang unter den Top 10-Alben), wurde bereits 2019 erfolgreich verfilmt. Nun wird diese weitererzählt. Das Drehbuch schrieben wieder Meg Leonard und Nick Moorcroft, die diesmal auch die Regie übernahmen.

Der Erfolg hat nicht nur das Leben der Chormitglieder und ihrer Familien, sondern auch das Fischerdorf an der Küste Cornwalls stark verändert. Wie es mit Ruhm und Erfolg so ist, zieht Port Isaac nun Touristen an, die Immobilienpreise steigen und mit der Ruhe vor dem Song ist es vorbei. Jim (James Purefoy) ist der ganze Rummel too much. Seit dem Tod seines Vaters, Gründungsmitglied des Chors, hat er keine Lust mehr – auch nicht auf die Einhaltung eines zweiten Plattenvertrags mit Universal Music. Weder die aus London angereiste Music Managerin Leah Jordan (Jade Anouka) noch seine Mutter Maggie (Maggie Steed), können den sturen Fisherman zum Weitersingen bewegen. Und dann gibt es auch noch ein neues Chormitglied, Morgan (Richard Harrington), mit dem sich Jim partout nicht vertragen will. Das kommt dem Chef der Plattenfirma gerade recht, da er ohnehin den Vertrag kündigen will. Doch der Rest des Chors hat auf den Plattenvertrag gesetzt. Und so versuchen sie, Jim umzustimmen. Allein die Sängerin Aubrey, gespielt von der irischen Folk-Ikone Imelda May, die in Port Isaac etwas Ruhe vor Paparazzi sucht, scheint Jims weichen Kern zu verstehen. Das Einzige, was Jim noch mal zum Singen bewegen könnte, wäre eine Einladung, in Glastonbury aufzutreten. Also fädelt Maggie mit List und Langusten das auf ihre Art ein. Doch bevor die singenden Männer die Bühne betreten, gibt es vorher eine waghalsige Rettungskation.

„Fisherman’s Friends 2“ ist eine gefällige Milieuschilderung, die eine herzliche Story über raue Männer mit dem Herz am richtigen Fleck erzählt. Das alte traditionelle Leben in einem Fischerdorf wird herrlich romantisiert. Hier gibt es noch ein Gefühl von Heimat, Tradition, Liebe und Zusammenhalt. Auch deshalb hat sich Aubrey schließlich dorthin verzogen. All das, so impliziert der Film, geht verloren, wenn man zu viel London, Fortschritt, Neuzeit und Wokeness reinlässt. Ein bisschen Kritik an zu viel „Traditionsliebe“ gibt es aber auch, etwa wenn eine Reporterin das Interview mit einem Chormitglied abrupt abbricht, weil dieser sich sexistischer Begriffe bedient, wie es harte Kerle nun mal schon immer getan haben. Jene, die in See stechen sowieso. Allzu hart fällt die Kritik jedoch nicht aus. Der arme Kerl hat keine Ahnung, was er verbrochen haben soll und man hat fast Mitleid mit ihm. Auch wenn der Film also ein wenig Fortschrittskritik übt, bleibt diese mild und fast wohlwollend. Die Musik, das Meer, die Liebe – das sind die Themen und machen den Film zu einem idealen Feelgood-Sommerfilm. Schließlich will Mensch nicht immer nur Problemfilme gucken.

(aus Choices)